Es gibt keine neue Mathematik in der Schule
Alle Mathematik, die in der Schule unterrichtet wird, wurde vor dem 20. Jahrhundert entdeckt. Das, was man vor 50 Jahren „neue Mathematik“ nannte, war vom Namen her eine Absichtserklärung, stammte die Mengenlehre doch aus dem späten 19. Jahrhundert. Es ging auf die Arbeit des Seminaire Nicolas Bourbaki zurück, das damals gerade die gesamte Mathematik in der Sprache der Mengenlehre formuliert hatte. Die Mengenlehre alleine als „neue Mathematik“ zu bezeichnen, ist als würde man die Maxwellschen Gleichungen als „neue Physik“ bezeichnen.
Es blieb damals bei der Absichtserklärung, neue Mathematik wurde nicht in die Lehrpläne aufgenommen. Würde man in Physik und Chemie ähnlich verfahren, würden das Bohrsche Atommodell, die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik fehlen. Röntgenstrahlen kämen vielleicht vor, Radioaktivität wäre als Phänomen bekannt ohne verstanden zu sein. Das im Lehrplan für Mathematik eine derartige Lücke besteht, wird in der Regel nicht einmal bemerkt.
Dies steht im Widerspruch zu der permanenten Betonung der Wichtigkeit der Mathematik als Schulfach. Warum sollte eine Wissenschaft als Schulfach wichtig sein, bei der niemand weiß, was in dieser in den letzten hundert Jahren passiert ist?
Was ist schwierig?
Die Antwort ist, so fürchte ich, einfach und wenig erfreulich. Die gesellschaftliche Funktion der Mathematik in der Schule ist es, schwierig zu sein. Diese wird von älterer Mathematik genau so gut erfüllt. Niemand braucht neue Mathematik, weil sich auch mit alter Mathematik Schülerinnen und Schüler durch schlechte Noten aussortieren lassen.
Was ist aber dieses Schwierige? Betrachtet man den Mathematikunterricht im Unterschied zu anderen Fächern, so findet man, dass Mathematik ein sehr praktisches Fach ist. Das Gelernte wird permanent angewendet, es wird gerechnet. Das einzige vergleichbare Fach ist in dieser Hinsicht der Werkunterricht. Die Theorie dahinter wird dagegen vernachlässigt. Was im Mathematikunterricht nicht passiert, ist dass Konzepte gelernt und rekapituliert werden. Das Schwierige im Mathematikunterricht ist die permanente Rechenpraxis, für die man entweder eine Begabung hat oder eben nicht. Dabei werden die Unbegabten gequält, während die Begabten gelangweilt werden. Dies zieht sich über die gesamte Schulzeit hin, obwohl für eine Auswahl der Begabten ein Jahr ausreichend wäre.
Als Ergebnis können Schülerinnen und Schüler bei günstigem Verlauf zum Beispiel die Bruchrechnung. Das es sich dabei aber um eine Konstruktion handelt, die genau das leistet was sie soll, ist für sie nicht formulierbar. Die Begriffe Ring und Körper fehlen, das die Bruchrechnung den Ring der ganzen Zahlen zu einem Körper erweitert, kann gar nicht gesagt werden. Das ist auch insofern bedauerlich, als der Umgang mit abstrakten Konzepten insbesondere durch die Informatik an Bedeutung gewinnt.
Was fehlt?
Tatsächlich ist es zwar nach meiner Erfahrung so, dass man sicher ist, ein mathematisches Konzept verstanden verstanden zu haben, wenn man sinnvolle Beispiele damit rechnen kann. Es gibt aber Ergebnisse, die auch ohne Rechenbeispiele einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Welt leisten. Das prominenteste ist der Unvollständigkeitssatz von Gödel. Dieser könnte problemlos im Unterricht der Oberstufe vorkommen. Man muss dabei natürlich ein präzises Verständnis der verwendeten Begriffe erreichen, aber das Rechnen von Beispielaufgaben ist genau so wenig erforderlich wie bei der Kritik der reinen Vernunft.
Die Mathematik des letzten Jahrhunderts war – auch wenn sie wenig beachtet wird - sehr erfolgreich. Insbesondere wurde in der algebraischen Topologie eine algebraische Sprache zur Beschreibung von Form entwickelt. Deren wichtigstes Werkzeug, die Homologietheorie, wird inzwischen als homologische Algebra in weiten Bereichen der Mathematik eingesetzt.
Als persistente Homologie wird sie in der topologischen Datenanalyse angewandt. Während Homologie, stark vergröbert ausgedrückt, Löcher findet, ist persistente Homologie ein Verfahren um gleichzeitig damit umzugehen, dass die Punktwolken statistischer Daten sehr löchrig sind. Ein schönes Beispiel findet sich hier, die wissenschaftliche Arbeit dazu ist hier. Es wurden dort die kontrastreichen 3x3 Pixel Ausschnitte einer großen Anzahl von schwarzweißen Naturfotos analysiert. Dabei wurde eine Häufung in der Form einer kleinschen Flasche gefunden.
Eine Einführung in die homologische Algebra sollte in der Oberstufe möglich sein. Das Haupthindernis ist dabei, dass die Schülerinnen und Schüler keine lineare Algebra können. Wenn die Begriffe Kern und Bild für lineare Abbildungen bekannt sind, ist die Konstruktion der Homologie einfach. Dies war jedenfalls das Ergebnis meines ersten Versuchs, den benötigten Unterrichtsstoff schriftlich zusammenzufassen.
Würde man in der Oberstufe über die Vektorrechnung hinaus lineare Algebra machen, wäre es einfach, auch die Grundlagen der kombinatorischen Homologie hinzuzunehmen. Damit gäbe es zum ersten Mal tatsächlich neue Mathematik in der Schule. Es wäre langsam an der Zeit.
Was mich ärgert
Der derzeitige Zustand ist Ausdruck einer ungeheuren Respektlosigkeit der Wissenschaft Mathematik gegenüber. Es impliziert die Vorstellung, dass die Mathematik des 20. Jahrhunderts nichts hervorgebracht hat, was es Wert wäre, verstanden zu werden. Dieser Auffassung war auch Feynman in seinem Artikel New textbooks for the „New“ Mathematics: „The pure mathematicians have in recent years (say, after 1920) turned to a large extent away from such applications and are instead deeply concerned with the basic definitions of number and line, and the interconnection of one branch of mathematics and another in a logical fashion. Great advances in this field have been made since 1920, but have had relatively little effect on applied, or useful, mathematics.“ Richard Feynman bezieht sich hier (im Jahre 1965) anscheinend auf die Grundlagenkrise, die 1930 endete.
Was besser sein könnte
Mathematik sollte wie andere Fächer auch den aktuellen Wissensstand vermitteln. Es sollten Konzepte formuliert, vermittelt und diskutiert werden. Kurz, Mathematik sollte teilweise ein „Laberfach“ werden. Dies würde mehr Schülerinnen und Schülern einen Zugang zur Mathematik geben und gleichzeitig die Ausdrucks- und damit Kommunikationsfähigkeit mathematisch begabter Schülerinnen und Schüler verbessern.
Ein stärker formalisierter Zugang zur Mathematik und das Beweisen von Sätzen sind hingegen nicht zielführend. Es geht vorrangig um das Vermitteln von Ideen, die Präzision kann den Mathematikern vorbehalten bleiben.